Grafik

Im Atelier
Im Atelier



Beim Zeichnen
Beim Zeichnen


 

Neugierig war Curd Lessig schon immer. In neue Themen, neue Techniken kann er sich regelrecht verbeißen, um sie dann ebenso schnell wieder aufzugeben, wenn sie doch nicht seinem innersten Wesen entsprechen. So versuchte er sich während der Akademiezeit intensiv in den verschiedenen Grafikverfahren, gab aber den Holzschnitt zugunsten des Linolschnitts, die Aquatinta zugunsten der Kaltnadelradierung bald wieder auf. Heute dominiert die Zeichnung in seinem Schaffen.

Schon als ganz junger Mann entdeckte er den Themenkreis für sich, der ihn noch heute beschäftigt, Seine erste Radierung zeigt eine „Ziegenjagd" (1949), sein erstes Litho „An der Tränke" (1949) Akte und Tiere, der erste Linolschnitt einen Fries mit Kühen (1951), der erste Holzschnitt „Die apokalyptischen Reiter" (1950) und die erste Aquatinta (1949) ein Pferdegepann vor einem Münchener Bahnhof. Menschen, Akte, ein bißchen Stadtlandschaft und vor allem Tiere also. Um diese Tiere zu studieren, hockte er sich manchmal in den Tierpark Hellabrunn und baute die dort entstandenen Skizzen in seine Grafiken ein, gesellte dem Tier den Menschen zu, erfand kleine stille Szenen. Nur in den „Apokalyptischen Reitern" wetterleuchtet schon die Dramatik, die Lessig heute in seiner Grafik auszeichnet. Der große Holzschnitt voll rändersprengender Kraft hing damals in (noch nicht) Ehefrau Evas winzigem Kindergärtnerinnenzimmer und führte ihr vor Augen, welch ein Kraftpaket mit unheimlichen Abgründen ihr Erwählter war.

Biblische Themen reizten ihn früh. „Die Hochzeit von Kanaan", „Am See Genezareth", „Die Beweinung" sind Szenen von ganz großer Ruhe und fast unjugendlichem Ernst. Doch auch das Alte Testament inspirierte ihn. „Die sieben mageren Jahre" heißt einer der ersten Holzschnitte mit Kühen natürlich und biografischem Hintergrund. Denn mager waren diese Münchner Jahre für Lessig tatsächlich: um sein Studium zu finanzieren, mußte er arbeiten. Am Tag habe ich Geld verdient, nachts meine Grafiken gemacht und wenn ich dann zur Akademie kam, war die Sache meist schon rum", erinnert er sich. Wieviel er trotzdem gelernt hat, kann man Blatt für Blatt an seinem Frühwerk erkennen.

Neben Themen, denen er treu blieb, gibt es in dieser Frühzeit auch Themen, die er später völlig ausklammerte: düstere, psychologische Szenen und mitunter auch ganz kryptische Blätter von Mensch und Tier. Die Kryptischen entschlüsselt der Künstler mit einer Leichtigkeit, die sich ein Betrachter niemals zutraute: Da hab ich einen Hund gemacht und die Menschengruppe einfach danebengesetzt." So simpel kann Ikonografie mitunter sein.

Ganz abgelegt hat Lessig aber seine dunklen Themen, die von seelischen Spannungen, grauer Hoffnungslosigkeit und unendlicher Melancholie berichten (z.B „Begegnung" 1949 und „Frauen von Nidden", 1950). Wie schwarze Krähen stehen da die Menschen, schwere Schatten füllen die Räume, Angst und Auswegslosigkeit nisten überall. Ohne den Einfluß von Munch wäre das nicht möglich, und ohne Lessigs damals leidenschaftliche Lektüre von Kafka und Dostojewskij ebensowenig. Die ganze ir­dische Hölle tat sich in den Blättern des jungen Mannes auf und als Gegengewicht fungierten die hellen, abgeklärten Idyllen von Mensch und Tier, ein irdisches Paradies in der Art von Gauguin. Freilich überwogen Hölle und Tristesse. Sein Faible für Beerdigungen schlug sich ebenfalls künstlerisch nieder. Nur auf schwarz-weiß-Werten baute er das Pathos von Leichenzügen auf. Überhaupt gibt es in Stimmung wie Farbskala in dieser Zeit nur wenige Zwischentöne. Die Vielfalt des Grau, das er später so schätzt, hatte er noch nicht entdeckt; das Humoristische war ihm verschlossen.
Die realistisch-expressive Phase dauerte nicht lange. Schon in „Christus am See" (1950) hatte Lessig sein Blatt durch ein strenges Kompositionsgefüge und durch äußerste Reduktion von Figuren, Landschaft und Gegenständen ins Knappe und Lapidare reduziert und die kleine Szene ins Monumentale gesteigert. Mitte der Fünfziger Jahre fällt dann jedes Beiwerk, jede Ausschmückung weg. Beeinflußt auch von Picasso, werden Mensch und Tier, selbst Landschaften in großzügige Formen zerlegt, in Farbfelder gestaffelt und vor einen flächenhaft-anonymen farbigen Hintergrund plaziert. Die früher so narrative Binnenzeichnung zerlegt die Objekte nun in Schatten- und Lichtpartien, Bewegungselemente, kubistische Elemente. Oder die Figur bleibt rudimentäre Negativform („Angler und Träumerin" 1960), lichterfüllt und lichtspeichernd.

Dass Lessig seit 1957 monumentale Fresken, Glasmalereien und Mosaiken erarbeitet, sieht man auch seinen Grafiken an. Der Zug ins Große wirkt auch auf die kleine Form ein.

Von seiner ersten Italienreise in den Golf von Neapel brachte er zwei neue Motive mit: Einsame Boote am Strand und Felsenlandschaften. Obwohl ganz linear aufgebaut, klingt in den Felsformationen leise die Thematik der späteren Gouachen an: schwer ist die Kontur, doch in der Binnenzeichnung, in der Struktur des Felsens knistert es von - hier noch - zeichnerischer Vielfalt. Punkte und Schraffuren, Striche und kleine Ornamente sind in die Umrißzeichnung eingeschrieben, als wolle der ganze Berg unterm Druck seiner Innenenergien bald platzen. In den Gouachen wird die pulsierende Farbe diese Rolle übernehmen.

Für eine kurze Zeit verläßt Lessig in den Sechziger Jahren das Figurative. Zuerst trennen sich die Farben von den Formen, dann verschwindet alles Gegenständliche zugunsten einer autonomen Farbform-Komposition, nicht unähnlich Lessigs ersten Entwürfen für seine Betonfenster. Doch lange hält es den sinnenfrohen Zeichner nicht beim Abstrakten. Wenig Jahre später hat er sie als Irrweg verworfen - besonders für seine Grafik.

Linolschnitt und Radierung, Lithografie und Serigrafie pflegt er bis heute. Seit 1982 kam die Feder-und Ölpastellzeichnung dazu, die heute, durch zahlreiche Ausstellungen, fast ein Synonym für Lessig geworden ist. Es ist, als entschädige sich Lessig in diesen ungeheuer dramatischen, bewegungsreichen Szenen für die strenge Würde, zu der er sich in seinen großen Arbeiten verpflichtet fühlt. Hier beginnt Lessig wieder zu fabulieren. Hier gewinnt er der Mythologie und der Geschichte ganz neue, ironische Töne ab und hier ist er geschmeidig im Strich, dramatisch in der Komposition, überaus witzig in der ungewöhnlichen Haltung gegenüber seinem Sujet.
Lessig blendet immer direkt und in Nahsicht in seine Szenen ein. Überschneidung, abenteuerliche Bildausschnitte, gewagte Perspektiven verleihen seinen Arbeiten eine ungeheure Dynamik - und eine fast filmische Auffassung. Kämpfe zwischen Ross und Reiter, wilde Gliederverkeilungen, atemberaubende Leiberdramen erzählt er immer wieder. Etwas Barockes ist in seiner Formulierung. Etwas ungestüm Jugendliches.

Bis in die achtziger Jahre befasste sich Lessig in Zeichnung und Grafik mit großformatigen Einzelblättern. 1984 wagte er sich mit „Paris und Napoleon" zum erstenmal an eine Serie. Das Spiel auf verschiedenen Zeitebenen gibt ihm die Möglichkeit, antikisch nackte Figuren und die pummelige Gewandfigur von Napoleon zusammenzuführen. Nicht nur das. Lessig entdeckt sich als skurrilen Fabulierer, als beredten Konturzeichner, der sich ganz auf die Ausdruckskraft seines Stichs verlassen kann. Prüde geht es bei ihm nie zu. Die Frauen zeigen immer, daß sie Weiber (auch Klageweiber, Lustweiber, Weibsteufel) sind, die Männer prangen mit ihrer Männlichkeit und ein gerüttelt Maß an Erotik gibt es sowieso. Überhaupt liebt Lessig Szenen, in denen es, um es vorsichtig auszudrücken, knistert. Frauen werden zu ihrer lustvollen Überraschung, unterfüttert mit Scheinprotest, entführt und/oder verführt. Paarweise verkeilt sitzt man auf kämpfenden Rossen und selbst die Liebe zwischen Mischwesen (Minotaurus, Kentaur) und pferdegesäßigen Frauen scheint gar nicht zu abwegig. Ein antikes Thema aber hat es in allen nur denkbaren Varianten Lessig angetan: „Das Urteil des Paris". Gibt es ihm doch Gelegenheit, gleich dreimal in griffiger Weibesfülle zu schwelgen und Paris, das kernig-derbe Mannsbild, in immer neu vertrackte Entscheidungssituationen zu bringen.

Doch da sind auch wieder ein paar dunkle Töne in Lessigs Zeichnungen, besonders in der Serie "Fortpflanzung des Todes" von 1989. Schon der Titel klinkt die beiden großen Pole Eros und Thanatos zusammen, die Lessig schon immer faszinierten und die wohl die Schlüsselbegriffe für sein Schaffen sind. In dieser Folge bricht das Leben förmlich von den Figuren ab, halb Skelett und noch halb intakt, wanken sie auf dem schmalen Grat von Diesseits und Jenseits, Vitalität und Morbidität. Zwar hat der Kontrast zwischen Lebensfeier und Tod schon seit dem Mittelalter Tradition, doch bei Lessig erschreckt die Dynamik und die Drastik. Abgründe tun sich auf, nicht nur in die Philosophie, sondern auch in die Persönlichkeit Lessigs.

Seit Mai 1998 entsteht seine wohl größte Serie, sein 'Work in progress'. Allabendlich beim Fernsehen, das er schauend - nicht schauend verfolgt, entstehen Skizzen zu „Auf dem Seil der Hoffnung tanzen viele Narren". Sechs dicke Bücher mit grotesken und leicht melancholischen, derben und äußerst behutsamen, frechen und einfach lustigen Szenen hat er schon zusammen. Wie in der Gouache die Farbe lässt er hier den Strich los. Weil sein Strich aber immer irgendeinen Inhalt erzählt, kommt es auf dem Strich (= Seil) zu aberwitzigen, doch denkbaren Körperverschlingungen, lüsternen Balztänzen und hahnebüchenen Figurenkombinationen.

Das Aktzeichnen, an der Akademie oft bis zum Überdruß geübt, beschäftigt ihn bis heute. Von einer wundervollen Frische sind seine Skizzen, leicht in der Farbe, präzise im Strich. Dass er sich nicht darauf beschränkt, die Posierenden zu malen, sondern auch die schauenden, zeichnenden, überlegenden Mit-Maler einbezieht, ist seine Besonderheit. Maler und Modell, dieses Thema schätzt er ebenso wie Picasso.